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Volksbühne eröffnet mit Sehgal und Beckett
Immersion in Grauburgunder
von Eberhard Spreng

Lange hatte man auf den ersten Abend der neuen Volksbühne unter Chris Dercon gewartet. Er beginnt mit viel Performances teils älteren Ursprungs des deutsch-britischen Künsters Tino Sehgal. Aber auch drei intensive Beckett-Einakter mischten sich in den Abend und retteten die Eröffnung.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 11.11.2017

Das Publikum erobert die Bühne. Ist das Programm der neuen Leitung?
Das Publikum erobert die Bühne. (Foto: Eberhard Spreng)

Dumpfe Gitarrenriffs dröhnen durch die Foyers der Volksbühne, dazu flackert das Licht, das dauert fast eine dreiviertel Stunde lang. Im Saal  setzen sich Lärm und Lichteffekte fort, wenn einzelne Scheinwerfer  Lichtstreifen an die Wände werfen, die Hubpodien der Bühne rauf und runter fahren – Die Bühne im menschenleeren Urzustand, unbevölkert wie ein leeres, technisches Universum. Dann wiederum draußen in den Foyers, lassen die  Videoprojektionen eines weiblichen Avatars von Philippe Parreno ahnen, welcher Art die Menschen  sind, die die Volksbühne bevölkern werden: Gestalten am Rand des Seins, verstrickt in Fragen von Virtualität oder realer Existenz.

Der Avatar sagt, er  sei ein Ghost, ein Geist oder ein undefined character, eine undefinierte Person, das lässt sich trotz des erheblichen Pegels der Umgebungsgeräusche vernehmen. Mit dem Krach müssen auch zwei junge Mädchen kämpfen, die als leibhaftige Akteure  in zwei von Tino Sehgal Performances spielen, jeweils in den beiden Randfoyers. “Human nature and all their words can flourish in a new way“

Philippe Parreno: Videoinstallation „Anywherea out of the world“ (Foto: Eberhard Spreng)

Soviel Alkohol wurde hier noch nie getrunken

Das akustische Kräftemessen zwischen performativer Kunstanstrengung und Kultursmalltalk in den Getränkewarteschlangen geht zulasten der Kunst aus, die immerhin vermuten lässt, es ginge hier um Endzustände der menschlichen Existenz, irgendwo zwischen noch nicht und nicht mehr. Und solche Endmoränen der Menschheit sind auch Gegenstand der drei Beckett-Einakter „Nicht Ich“, „Tritte“ und des Fernsehdrehbuchs „He,  Joe“.

Die Schauspielerin Anne Tismer in Becketts Einakter "Tritte"
Anne Tismer schreitet getreu der Schrittvorgabe von Samuel Beckett. (Foto: David Baltzer)

In der nun völlig abgedunkelten Volksbühne ist in „Nicht Ich“ nichts als der Mund der Ausnahmeschauspielerin Anne Tismer  zu sehen, in „Tritte“ ist es immerhin ihr wiederkehrender, zeremonieller Gang über die Vorderbühne, mit vorgebeugtem Oberkörper und wie fröstelnd verschränkten Armen. In „He, Joe“ ist wiederum nur ihre Stimme zu hören, die wie die Einflüsterung des schlechten Gewissens die Entwicklung hin zum Selbstmord einer Frau nachzeichnet. Joe muss sich das anhören, in sechs  kleinen Abschnitten, zwischen denen eine Kamera sein Gesicht jeweils etwas vergrößert auf der Gaze vor der Vorderbühne zeigt. Anne Tismer spielt unter der Regie des Beckett-Puristen und ehemaligen Beckett-Assistenten Walter Asmus hochkonzentriert und mit erheblicher Sprachbeherrschung. Das sind drei Theaterminiaturen in extremer Reduktion, leise und von einer konzentrierten Stille im Publikum begleitet. „He, Joe hol die Tablette raus und wieder durch den Tag …“

Zusammen hören und zusammen gehören im Theater

In diesem Herzstück des Eröffnungsabends war immerhin für das Ohr noch einmal erfahrbar, was Theater als kollektiver Versammlungs- und Verdichtungsraum ist, weil hier für die Dauer der Aufführung Menschen zusammen gehören, weil sie zusammen hören, um Peter Sloterdijks Metapher von der nationalen Zusammengehörigkeit als psychoakustischer Inszenierung von 1998 zu zitieren. So etwas will Chris Dercon: Das Herstellen von Gemeinschaften, aber der Kunst-Sektor, aus dem er auf der Suche nach diesem Ziel ins Theater flüchtet, bringt an diesem Abend einfach gar nichts Taugliches mit. Tino Sehgal, der aus seinem reichen Schatz fertiger Installationen an diesem Abend diverse ältere Arbeiten eingestreut hat, lässt von seinem Chor die Stühle im Zuschauerraum wieder wegräumen, ihn in aufgeregten Gruppenbewegungen zwischen Bühne und Zuschauerraum hin und herlaufen. Und dann soll auch das Publikum auf die Bühne, wie um letzte Reste der Grenzziehungen zwischen Bühne und Publikum in einem programmatischen Spaziergang endgültig zu tilgen. Das ist eine Variation von Tino Sehgals Museumsarbeit „These Associations“ von 2012, zu der auch Einzelansprachen der Akteure an diverse Zuschauer gehören. „…und ich bin dann so auf ein Kissen geplumpst und das war ein unglaublicher Moment.“

Nach den Beckett-Inszenierungen wirkt das abschließende Reden, Rennen, Singen geradezu naiv belanglos und zerstört neben dem Zuschauerkollektiv auch die einzige dramaturgische Klammer, die dem Abend geblieben war. Die Frage nach dem existentiellen Geworfensein des Menschen in eine für ihn inkompatible Existenz und eben nicht nur Reden über anekdotische Problemchen mit beliebigen Momentaufnahmen im globalen Wahrnehmungsbrei. Wenn der Chor dreimal E-lec-tri-ci-ty singt und mit jeder Silbe das Saallicht anschwillt und bei der letzten Silbe verlöscht, dann ist der assoziative Kurzschluss erreicht- ein Nullpunkt im Raum künstlerischer Symbolbildungen. Der Export von Sehgals theatralen Gruppenbewegungen ins Museum mag in den vergangenen Jahren den Kunstinteressierten als sogenannte „constructed situations“ erhellende sozialen Erfahrungen beschert haben, für den Reimport dieser Arbeiten ins Theater gilt das nicht. Natürlich muss zum Schluss auch hier noch gesagt werden, dass sich der Kritiker aufgrund der vorangegangenen Kontroversen um Dercon gestern wirklich bemüht hat, in dieser Volksbühneneröffnung Schneisen in die ästhetische Zukunft des Hauses zu erkennen. Aber dieser Flop wirkt fatal, weil in ihm für die Volksbühne derzeit keine Chance auf eine glückliche Fusion von bildender Kunst und Theater erkennbar ist.