Katie-Mitchell-De-Meiden-Simon-Stone-Ibsen-Huis-Guy-Cassiers-Grensgeval-beim-Festival-in-Avignon

Festival in Avignon
Europa zwischen Trauma und Perversion
von Eberhard Spreng

Katie Mitchell, Simon Stone und Guy Cassiers. Alle befassen sich auf sehr unterschiedliche Weise mit einem Europa der Flüchtlingskrisen. Mit Jean Genets Die Zofen, einer in Improvisationen entwickelten Ibsen-Paraphrase Ibsen Huis und einem choreographierten Oratorium nach Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen.

Im l'Autre Scène gastiert Katie Mitchells "De Meiden"
Auch im Vorort Vedène sind Aufführungen des Festivals zu sehen (Foto: Eberhard Spreng)

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 19.07.2017

Sie hasten durch eine schicke, moderne Wohnung. Ein Schminktisch rechts, hinten ein großes Bett, links eine Ankleide. Hier hetzt Solange in alltäglichen Verrichtungen umher, während Claire sich am Schminktisch bedienen lässt. Es ist, natürlich, ein Spiel. Claire spielt nur die Herrin, Solange spielt nur die Dienerin. Marieke Heebink und Chris Nietvelt von der Amsterdamer Toneelgroep erproben in langsamer Steigerung einen Konflikt, der ins Verbrechen führen soll, ins gewaltsame Ende eines Ausbeutungsverhältnisses. Und all dies ist bei Jean Genet in „Die Zofen“ Maskerade, eine spielerische Revolte, die um ihr Scheitern weiß. Und es ist Travestie, denn der Autor wünschte sich Männer für die Verkörperung der beiden Frauen. Kaum ein Regisseur hat ihm diesen Wunsch je erfüllt und auch Katie Mitchell belässt es bei dieser Besetzungsgewohnheit. Aber ihre Madame ist mit Thomas Cammaert ein Transsexueller, was Katie Mitchells mitunter etwas schematischem Feminismus gerecht wird: Die wahre Unterdrückung kann nur die der Frau durch einen Mann sein, auch wenn dieser ein Transsexueller ist. Aufbrausend herrisch kommandiert er seine Zofen, die in dieser Inszenierung untereinander gelegentlich Polnisch sprechen: Diese Zofen sind Vertreterinnen einer neuen Klasse illegaler Migrantinnen in bösen Ausbeutungsverhältnissen.

Entgegen ihrer Gewohnheit inszeniert Katie Mitchell hier kein Making-of, also nicht das filmische Entstehen der Geschichte im Hier und Jetzt der Aufführung: Also kein Video, keine parallel zum Geschehen operierenden Geräuschemacher. Auf der Bühne sehen wir ein sehr stilles, fast ersticktes Spiel, dessen Naturalismus dem Stück den bitteren Spaß an der Maskerade, der Persiflage und der Travestie und damit den Autor Genet austreibt.

Auch "Ibsen Huis" spielt in einem Glashaus, hier im Hof des Lycée Saint-Joseph
Auch „Ibsen Huis“ spielt in einem Glashaus, hier im Hof des Lycée Saint-Joseph. (Foto: Eberhard Spreng)

In diesen Tagen ist auf Avignons Bühnen sehr viel Niederländisch zu hören. Wiederum mit der Toneelgroep Amsterdam hat Shooting Star Simon Stone eine von Motiven aus Ibsen-Stücken inspirierte und in Improvisationen entwickelte Familiensaga inszeniert. Über vier anstrengende Stunden führt sie in die Finsternis eines Menschenbildes, das geprägt ist von Obsessionen, Verdrängung und Ausweglosigkeit. Von 1964 bis 2017 erstreckt sich die Erzählung, die im Klima des Aufbruchs beginnt und im Europa der Flüchtlingskrisen endet, und für Simon Stone in einem Übergleiten der individuellen in gesellschaftliche Traumata. „Meine Arbeit ist eher eine Psychoanalyse als eine Überschreibung. Ich arbeite an der Psychoanalyse zeitgenössischer Versionen der alten Ibsen-Figuren. Und, um bei Sigmund Freud zu bleiben: Ich habe das Gefühl, der gesamte europäische Kontinent verdrängt eine traumatische Erfahrung. Jetzt sehen alle, dass sich wiederholt, was sie verdrängt haben und reagieren traumatisiert und pervers, weil ihre Erinnerung sie übermannt.“

Jelineks „Schutzbefohlene“ als Partitur für das choreographierte Oratorium Grensgeval (Borderline).

Im Zentrum des verdrängten europäischen Erbes und der neuen Flüchtlingskrisen ist Elfriede Jelineks „Die Schutzbefohlenen“ angesiedelt, von dem der Antwerpener Toneelhuis-Direktor Guy Cassiers einige Ausschnitte inszeniert. An zwei kleinen Stahltischen haben die Sprecher Platz genommen; ihre Gesichter zeigt eine schwarz-weiße Videoprojektion kaleidoskopisch verfremdet. Neben den Sprechern okkupieren stumme Gestalten in einfacher Kleidung die Bühne. Ihre rhythmischen Bewegungen lassen an Massenmärsche denken. Guy Cassiers hat sich für seine Version des Jelinekschen Flüchtlingssprachkunstwerks mit der Choreografin Maud Le Pladec zusammengetan. Was als Worte über Flüchtende beginnt, soll zum Wort der Flüchtenden werden. Die Trennung von europäischen Sprechern und dem stummen Chorus wird aufgehoben; die Sprecher verlassen ihren sicheren Ort und mischen sich ins Gruppenbild der Flüchtenden. Eine ganze Wand mit diversen Bildschirmen spuckt nun Farbbilder aus vom Leben auf der Flucht und aus Lautsprechern dröhnen heftig wummernde Sounds.

In Guy Cassiers sehr formalistischer Arbeit ist die Identifikation des Europäers mit Geflüchteten ein Akt des inszenatorischen Mutwillens und ohne dramatische Fundierung, bei Simon Stone ist das Verhältnis von Flüchtenden und europäischen Neurotikern ein nur angedeutetes Randproblem, bei Katie Mitchell dient es der zeitgenössischen Auffrischung eines Konfliktes in einem schnell gealterten Genet-Stück. Das Theater tastet nach Bildern, Annäherungen, Metaphern in der Mitte eines Festivals, das nach einem starken Start mit Frank Castorf derzeit keine Aufführung zeigt, an der sich alle begeistern könnten.