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Halbzeit beim Festival in Avignon
Matilda-Effekte und müde Klassiker
von Eberhard Spreng

Klassiker beschäftigen die französischen Regisseure seit Beginn des Festival d’Avignon: Seneca, Racine und Aischylos, an den sich Festivaldirektor Olivier Pys für eine Trilogie von drei eigenen kleinen Stücken anlehnt. Sie sollen politische Debatten befeuern, die allerdings an anderer Stelle in der Festivalstadt niveauvoller geführt werden.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 17.07.2018

kollektives Nachdenken im Schatten der Olivenbäume
„Mesdames, Monsieurs et le Reste du Monde“. (Foto: Christophe Raynaud de Lage / Festival d’Avignon)

Der Mistral, dieser typisch südfranzösische Wind, fegt durch die Blätter der alten Platanen im Hof vor der mittelalterlichen Bibliothek Ceccano. Zuschauer drängen sich um ein Podest, auf dem lauter Frauen von der Geschichte der weiblichen Diskriminierung im Wissenschaftsbetrieb berichten: Matilda-Effekt heißt, nach der amerikanischen Frauenrechtlerin Matilda Joslyn Gage ein Phänomen, dem zufolge die Forschungserfolge weiblicher Wissenschaftler in aller Regel ihren männlichen Kollegen zugeschrieben werden. Dadurch wird der weibliche Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte systematisch unterschlagen. Bei freiem Eintritt erkundet die täglich wechselnde Aufführungsfolge „Mesdames, Messieurs et le Reste du Monde“, zu deutsch etwa: „Meine Damen, meine Herren, lieber Rest der Welt“, diverse Formen von Diskriminierung. Wie in den Vorjahren soll nach dem Willen des Festivaldirektors Olivier Py auch in diesem Jahr das diskursiv-emanzipatorische Herz des Festivals in dieser offene Agora schlagen. Avignon steht in diesem Jahr im Zeichen der Genderdebatte und versteht sich auch in diesem Kontext als moralische Instanz. Das hat Festivaltradition und ist Selbstverständnis seit 1947.

Jean Racines „Iphigénie“, ein Betriebsunfall des Kulturbetriebs

Nach der Eröffnung mit Senecas „Thyestes“ bleibt das Festival in diesem Jahr beim Blick auf antike Stoffe und das klassische Repertoire. Allerdings gelang der jungen Regisseurin Cloé Dabert mit Jean Racines „Iphigénie“ nur ein äußerst uninspiriertes Aufsagen von blutleeren Alexandrinern, ein, wie die Tageszeitung Le Monde spöttelte, „Betriebsunfall“. Ein Unfall, der auch Kulturministerin Françoise Nyssen ärgern könnte, hatte sie die Regisseurin doch gerade erst für die Leitung des wichtigen Theaterzentrums in Reims berufen.

An den großen griechischen Klassiker Aischylos angelehnt ist Olivier Pys neue Arbeit „Pur Présent“. Auf einer simplen, etwa boxringgroßen Podestbühne hat Festivaldirektor, Autor und Regisseur Olivier Py drei kurze, eigene Stücke eingerichtet. Sein Schreiben wurde angestoßen durch die Erfahrungen, die er als Übersetzter sämtlicher überlieferter Aischylos-Stücke gemacht hatte. „Aischylos versucht, die Gesellschaft zu versöhnen, ihre Konflikte zu befrieden und einen weiten Begriff von Demokratie zu etablieren. Zum Beispiel sagt er in der „Orestie“: Wenn ein Mann viel reicher ist als die anderen, dann ist das eine Gefahr für das demokratische Zusammenleben. Klar, was ich damit sagen will: Heute besitzen 10% der Bevölkerung quasi den gesamten Reichtum der Erde. Über was würde Aischylos schreiben, wenn er heute leben würde? Wie würde er heute Hoffnung verbreiten? Wie die Demokratie stärken?“

Spielpodest vor Gemälde: Einer Gewaltszene von Guillaume Bresson
„Pur Présent“ spielt vor einem Gemälde von Guillaume Bresson (Foto: Christophe Raynaud de Lage / Festival d’Avignon

Olivier Py lässt in plakativen Parabeln argumentative Zweikämpfe ausführen. Im Gefängnis spricht der inhaftierte Drogenboss aus der Unterschicht mit einem von Schuldgefühlen gepeinigten Kaplan, dem Sohn eines megalomanischen Bankers, der eine Kryptowährung erfunden und die Welt in den Ruin getrieben hatte. Wie er dies praktiziert und dabei einen Politiker seinem Willen unterwirft, das erzählt der zweite Teil. Welche Formen von Widerstand überhaupt noch denkbar sind, darüber meditiert das dritte der kurzen neuen Stücke des Olivier Py. Seine Metaphern wollen die großen Themen der Gegenwart fassen: Den Wirklichkeitsverlust, die Unterwerfung unter das Diktat des Geldes, und jetzt der digitalen Entscheider, der Computer, Zahlen und Algorithmen.

Im Abendland herrscht ideologischer Stillstand

Was die Zukunft für die abendländische Zivilisation sonst noch bereit hält, will die Gesprächsreihe „Penser le Monde Après-Demain“, „Nachdenken über die Welt von übermorgen“ erkunden. Leider wagte sich bislang kaum ein Teilnehmer aus dem hermetischen Slang seines gesicherten Wissenschaftsterrains heraus. Nur der bekannte Anthropologe und Demograf Emmanuel Todd war in Bezug auf die Veränderbarkeit der Welt bereit zu provokanter Polemik. „Fast alle Bevölkerungen waren, z.B. während der industriellen Revolution im Schnitt 25 Jahre und nicht wie heute 40-45 Jahre alt. So einen Altersdurchschnitt hat es noch nie gegeben. Und Revolutionen macht man mit 25 Jahren und nicht als alter Mensch. Ich weiß nicht, was das für die Zukunft bedeutet: Zunächst einmal aber ein Erstarren politisch-ideologischer Prozesse. Mal ehrlich, seit 25 Jahren passiert doch auf der Ebene ideologischer Veränderungen im Abendland gar nichts mehr. Wir drehen uns im Kreis.“

Avignon bleibt noch bis zum 24. Juli diskursiver und theatraler Streitraum mit stark pädagogischen Aspekten und wird damit dem Profil gerecht, den sich Präsident Macron von der Kultur wünscht.