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„Rückkehr nach Reims“ an der Schaubühne
Das Theater analysiert den Rechtsruck
von Eberhard Spreng

2009 erschien in Frankreich Didier Eribons „Retour à Reims“, in dem sich der Autor mit seiner Biografie als Arbeiterkind in der nordöstlichen Provinzstadt Reims auseinandersetzt. Zugleich ist das Buch eine historische Analyse einer Mentalität, die die kommunistische Arbeiterklasse in die Arme des Front National trieb. Nach der englischen Uraufführung in Manchester inszeniert Thomas Ostermeier „Rückkehr nach Reims“ nun in Berlin.

Bayerischer Rundfunk, Kulturwelt – 25.09.2017 → Beitrag Hören

Nina Hoss beim Vorlesen des Kommentartextes
Nina Hoss liest den Eribon-Text zu dokumentarischen Filmbildern (Foto: Arno Declair)

Ein Mann am Fenster eines Schnellzugs, auf der Fahrt zurück in seine Kindheit und Jugend, Archivbilder vor allem aus den 80er und 90er Jahren, das sieht der Zuschauer auf einer Leinwand. Es sind Bilder in einem Dokumentarfilm über Didier Eribon, zu dem nun ein Kommentartext aufgenommen werden soll. Und den spricht an einem kleinen Pult unter der Leinwand, Nina Hoss.

In meiner Kindheit ist meine gesamte Familie »kommunistisch« gewesen. Wie konnte es dazu kommen, dass man in derselben Familie wenig später rechte oder rechtsextreme Parteien wählte und dies sogar manchmal als die »natürliche« Wahl empfand?

Das ist die Kernfrage in einer Untersuchung, die zwischen Kindheits- und Jugenderinnerungen und soziopolitischen  Betrachtungen wechselt. Der junge Didier Eribon erlebte seine Kindheit im Arbeitermilieu als beengend, zumal er mit der Entdeckung seiner Homosexualität und seinem Interesse für Kultur und Philosophie mit den Mentalitätswelten seiner Eltern und seiner Brüder in Konflikt geriet. Einziger Student der Familie und schließlich an die Universität nach Paris wechselnd, brach er mit seiner Familie und reüssierte als einer der maßgeblichen Soziologen Frankreichs. Er ist wie so viele linke Intellektuelle erschüttert darüber, dass das nationalistische und rechtsradikale Denken in vielen Ländern Europas vor allem in der Arbeiterklasse anzutreffen ist, aber kaum einer hat so präzise wie Eribon die Gründe dafür benannt.

Ein Gutteil der Linken schrieb sich nun plötzlich das alte Projekt des Sozialabbaus auf die Fahnen, das zuvor ausschließlich von rechten Parteien vertreten und zwanghaft wiederholt worden war. Die linken Parteien dachten und sprachen fortan nicht mehr die Sprache der Regierten, sondern jene der Regierenden.

Für die neue Rechte ist die politische Linke der 1990er und der Nuller Jahre verantwortlich zu machen. Tony Blair, Gerhard Schröder, später François Hollande und andere setzten die gesellschafts- und arbeitspolitischen Veränderungen durch, die gemeinhin mit dem Begriff des Neoliberalismus verbunden sind.

Die drei Schauspieler bei der Aufnahme des Kommentars
Hans-Jochen Wagner, Nina Hoss, Renato Schuch bei der Aufnahme (Foto: Renato Declair)

All das verkündet Nina Hoss, alias Didier Eribon in ihrem Kommentartext, während im rechten Bühnenhintergrund der Filmemacher Paul und der Toningenieur Toni hinter der Scheibe in der Technik sitzen. Die haben auch ein Problem, streiten sich über Tonis Bezahlung. Paul hoffte für seinen, wie fast alle deutschen Dokumentarfilme unterfinanzierten Streifen auf kostenlose Studionutzung, Toni erwartet immerhin den halben Tarif. Die soziale Not ist eben auch ein Thema auf der Making-Of-Schiene der von Thomas Ostermeier und Nina Hoss entwickelten Theaterversion.
Interessant wird diese Erzähleben dann auch noch einmal, wenn die Kommentarsprecherin mit der Filmdramaturgie nicht mehr einverstanden ist und sich auch gegen die düstere Sicht Eribons auf die Mentalitätsgeschichte der ehemaligen Kommunisten wendet.

Nina Hoss’ Vater wird zum Gegenentwurf zu Eribons finsterer Diagnose

Dabei verwandelt sich Kathrin immer mehr in Nina Hoss, deren Vater Willi Hoss – auch er wie der Vater Didier Eribons ein Arbeiter und Kommunist –  Mitbegründer der Grünen wurde, sich für Menschenrechte einsetzte und für die Indios im brasilianischen Regenwald und eben keinesfalls ein Wähler etwa der AFD. Über das Verhältnis von Regisseur Paul und Sprecherin Kathrin sagte Filmstar im Gespräch.

Ich finde, es sind zwei Suchende, es sind zwei Komplizen, die sich auseinandersetzen mit was gerade um sie herum passiert. Ich bin relativ mit ihr auf einer Linie, weil sie sucht und an die Möglichkeit glaubt, dass man einer Gewalt der sozialen Welt ganz praktisch im Kleinen begegnen kann.

Damit schafft Nina Hoss an diesem Abend einen dialektischen Kontrapunkt, aber der Kern des Stückes bleibt davon unberührt: Thomas Ostermeier, der wie Eribon aus einem einfachen Milieu stammt, setzt die Premiere seines sehr persönlichen Stücks auf den Wahlabend, an dem die AFD in den Bundestag einzieht und er meditiert zusammen mit dem französischen Autor und seiner Hauptdarstellerin über die Gründe für diese rechte Entwicklung. In dieser Ehrlichkeit liegt schon der Keim für den Beginn eines neuen linken Denkens.