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Nachruf auf den Schriftsteller Tankred Dorst
Dramatiker der Unerlösten
von Eberhard Spreng

Passionen ohne Erlösungshoffnungen schrieb Tankred Dorst und blickte in seinen Stücken und Drehbüchern auf den von Gott verlassenen Stoff der Welt. „Toller“, „Merlin oder das wüste Land“ sind, wie viele andere seiner über 50 Stücke, unvergessene Sternstunden der deutschen Dramatik. Jetzt ist der Dramatiker mit 91 Jahren in Berlin gestorben.

Deutschlandfunk, Kultur Heute – 01.06.2017

Foto: Eberhard Spreng

Dostojewskij und die Gebrüder Grimm nannte Tankred Dorst einmal als seine Lieblingsautoren. Figuren, die von bösen Kräften beherrscht werden, zogen sich durch sein gewaltiges Oeuvre. Emblematische Gestalten mit Ewigkeitswert wanderten wie in einem Bilderbogen über die Bühne. „Die Entsetzlichkeit der Welt“ wollte er schildern, Passionen und Geschichten vom unvermeidlichen Scheitern des Menschen. „Das Verruchte weckt und beschäftigt die Phantasie“ hatte der Dramatiker einmal gesagt.

Tankred Dorst war als Sohn einer wohlhabenden thüringischen Fabrikantenfamilie 1925 zur Welt gekommen und wurde noch während seiner Schulzeit zur Wehrmacht einberufen. „Ich war ja noch vier Wochen im Krieg wirklich und dann in Gefangenschaft, in Amerika und England. In Gefangenschaft habe ich, wo ich konnte und Zeit oder Gelegenheit hatte, schon immer Stücke geschrieben, war aber so beeinflusst von Stücken, die ich gelesen hatte in der Lagerbibliothek. Und da gab es zum Beispiel die Stücke von Ernst Toller, also expressionistische Stücke.“

Ein Anfang mit „Toller“

Der Schriftsteller, Politiker und Revolutionär sollte für Tankred Dorst zur zentralen Figur seines ersten großen Bühnenerfolgs werden. Das Publikum war zu Beginn der 1960er Jahre mit „Große Schmährede an der Stadtmauer“ auf den jungen Dramatiker aufmerksam geworden. Wenig später begann er mit der Arbeit an der szenischen Revue „Toller“. „Ich habe vor, ein Stück über Toller zu schreiben, über den Schriftsteller Ernst Toller, der in den 20er Jahren eine Zeitlang an der Spitze der Münchener Räterepublik stand. Das Grundthema dieses Stücks wäre also die gescheiterte Utopie.“  1968 kam „Toller“ in der Regie von Peter Palitzsch am Staatstheater Stuttgart auf die Bühne. Bei der Arbeit an einem Fernsehfilm lernte Tankred Dorst zu Beginn der 1970er Jahre seine künftige Frau und Mitautorin Ursula Ehler kennen. „Ich arbeite nicht gerne allein, und mit Ursula sind wir … wir sind eigentlich ein Gespräch und kein Monolog, Wir leben ja zusammen und reden natürlich über das, was uns begegnet oder was wir denken. So wie wir über unsere Bekannten, Freunde oder Feinde reden, oder über Dinge die uns passieren, so reden wir auch über die Personen in den Theaterstücken.“

Die eigene Familiengeschichte verarbeitete Tankred Dorst in dem Roman „Dorothea Merz“, dem Stück „Die Villa“ und der etwas melancholischen Komödie „Auf dem Chimborazo“. Auf einem Höhenzug irgendwo an der deutsch-deutschen Grenze will Dorothea Merz ein Zeichen setzen, scheitert aber an ihren Selbsttäuschungen und Lebenslügen. In insgesamt sechs Werken hat sich der Autor mit der Geschichte seines Landes beschäftigt. Sechs „deutsche Stücke“ umfassen dabei auch das Drama „Heinrich oder die Schmerzen der Phantasie“, die wie schon „Dorothea Merz“ bald darauf verfilmte Erzählung „Klaras Mutter“ und das Drehbuch „Mosch“.

Dorst war auf den Bühnen und im Fernsehen präsent

Tankred Dorst prägte so nicht nur die deutsche Theater- sondern auch die Fernsehlandschaft der 1960er bis 1980er Jahre. Dorsts „Eiszeit“ brachte Peter Zadek 1973 auf die Bühne, wo die nachrückende Generation mit einem alten Schriftsteller abrechnet, mit dessen Nazi-Kollaboration. Gemeint war der norwegische Nobelpreisträger Knut Hamsun. Neben Zadek inszenierten insbesondere Peter Palitzsch, Wilfried Minks, Dieter Dorn und später Bob Wilson Stücke des Dramatikers. Der Texaner inszenierte 1987 in Hamburg den „Parzival“.

Von der „Schmährede“, einer pazifistischen Parabel im Brecht-Stil bis zur anarchistischen Farce in „Wegen Reichtum geschlossen“ reichen die Spielformen bei Dorst. Viele seiner Stücke hatten „Bild-Dramaturgien“, die viel Mythos, Märchen und Metaphysik einfangen wollten. Sie verlangten den Regisseuren eine große Erfindungsgabe ab, visuelle Übersetzungen  einer archaischen Symbolwelt, die eine Besonderheit seiner Dramatik war. Zugleich begegneten sich seine Figuren in der Regel mit direkter, schnörkelloser Sprache.

Merlin – monumentales Welttheater

Der vielleicht größten dramaturgischen Herausforderung stellte sich Tankred Dorst, der immer stark der Geschichte verbunden war, mit seiner Dramatisierung der Artus-Sage. „Ich habe ein Stück „Merlin“ geschrieben, und da habe ich gedacht: Mir fällt keine Zeile ein, so von den Bewegungen, die durch das Stück gehen, von den Figuren und den Verhältnissen. Ich wusste einfach nicht, wie das gehen soll. Es sind aber dann doch 400 Seiten geworden. Es ist mir dann doch irgendwie aufgegangen, was das eigentlich ist.“ ‚Merlin oder das wüste Land‘ ist ein Weltuntergangs-Bilderbogen im mittelalterlichen Mythen-Gewand. Zu Beginn der 1980er Jahre wurde darin allerdings auch die mögliche atomare Selbstvernichtung der Menschheit gesehen. Das meistgespielte Stück von Tankred Dorst und Ursula Ehler war ein monumentales Welttheater mit pessimistischer Letztbegründung. Diese Haltung teilte es mit anderen Stücken: Artus, Parzival, der blinde Korbes im gleichnamigen Stück von 1988 sind Unerlöste und Unerlösbare.

Als Regisseur betätigte sich der ungemein produktive Künstler unter anderem in Bayreuth, wo er 2006 den Ring inszenierte. Tankred Dorst wurde u.a. mit dem Georg-Büchner-Preis und dem Faust-Theaterpreis ausgezeichnet. Die von ihm 1992 gegründete Theaterbiennale „Neue Stücke aus Europa“ wurde zu einem der weltweit führenden Foren für internationale zeitgenössische Dramatik.

Tankred Dorst war ein unübertroffener Menschenbeobachter. Sein umfassendes Werk war dem Blick auf das, was ist, verpflichtet, fernab vom lauten Getöse der Ideologien. Wie das Böse in die Welt kommt, war eine Frage, die Dorst keine Ruhe gelassen hat. Eine einfache Antwort hat er nie gegeben. Statt dessen präsentierte er in Passionen ohne Erlösungshoffnung den von Gott verlassenen Stoff der Welt.