Hebbel am Ufer – Utopische Ralitäten

Utopische Realitäten am HAU

Willkommen im Nirgendwo

Wo ist einhundert Jahre nach 1917 das utopische Denken geblieben? Politisch scheint es erloschen – nur Künstler halten es wach beim Festival „Utopische Realitäten – 100 Jahre Gegenwart mit Alexandra Kollontai“.

Von Eberhard Spreng

In einer begehbaren Installation entführen Marina Davydova und Vera Martynov ins Mysterium Russlands (Foto: Dorothea Tuch)

Deutschlandradio Kultur, Fazit – 16.01.2017 → Beitrag hören
Eine Pforte öffnet sich und ein Grüppchen Zuschauer betritt einen Raum voller Porträts wichtiger russischer Persönlichkeiten der zaristischen Monarchie, Karikaturen und Filmbilder. Rund um eine lange Tafel wandern die Zuschauer, lassen den Blick über Einrichtung und Bilder gleiten, bis eine heftige Vibration unter der Tischplatte ein großes Porzellangeschepper hervorruft, als Vorzeichen heftiger historischer Umbrüche.

“For security reasons You’re kindly requested to leave Eternal Russia. Exit to Utopia One!”

Dreimal wird der Zuschauer in diesen Geschichtsraum zurück gebeten, nach Gängen durch verschiedene Räume in dem Hinterhofffabrikgebäude, das das HAU 3 beherbergt. Und dreimal befindet er sich, im Wechsel zu  diesem Raum der ewig widerkehrenden Restauration, in einem Raum der Utopie. Der erste ist mit einfachen Bänken ausgestattet und Avantgardeplakaten geschmückt. Ein Videovortrag findet dort statt, in dem Sergey Chonishvili ziemlich nüchtern, ziemlich eindringlich, aus der Chronik der Ereignisse einige zentrale Aussagen der russischen Historikerin und Theaterkritikerin Marina Davydova entwickelt, die mit „Eternal Russia“ ihre erste künstlerische Arbeit vorlegt.

Ein Faschismus der Heuchler

Da gibt es etwas, das Menschen im Westen bis heute nicht richtig  verstanden haben: Wie konnten all diese linken Ideen sich in etwas ganz andres verwandeln – in ihr Gegenteil. Der deutsche Faschismus erklärte seine Ziele ganz offen. Unser Faschismus war dagegen total heuchlerisch und schwer in seiner wahren Natur zu erkennen. Und er war meiner Meinung nach auch eine Reaktion auf den modernistischen Durchbruch der Jahrhundertwende, aber auch vor und nach der Revolution.

Für Marina Davydova war die bolschewistische Revolution der Anfang vom Ende eines wirklich freien, sozialistischen Russlands. Im Utopieraum 2, ist von der traurigen Bilanz einer ästhetischen Katastrophe die Rede. Der konstruktivistische Aufbruch ist vom Stalinkitsch beendet worden. Wo klare Konturen waren, sind Säulchen und Ornamentik getreten: Der spießig-aggressive Kunstgeschmack des Kleinbürgers beendet die revolutionäre Avantgarde.

Freiräume für Künstler schaffen

Hartes Los fürs Utopische in einem Festival, das HAU-Chefin Annemie Vanackere kuratiert hat, indem sie verschiedenen Künstlern die Schriften der russischen Revolutionärin und Feministin Alexandra Kollontai als Inspirationsquelle für einen freien künstlerischen Prozess zu lesen gab.

„Mit Künstler*innen ins Gespräch zu kommen über eine Art zu denken, das jetzt viel weiter entfernt ist als damals, war für uns spannend, weil wir nicht wussten, was da heraus kommt. Das ist in nicht an vielen Orten der Welt noch möglich, Künstler normal zu bezahlen, um nachzudenken, neue Formen zu entwickeln, neue Arbeiten zu entwickeln. Das war für uns auch Teil eines utopischen Momentes.“

Debatten, zwischen lauter untergehenden Sternen – die EU in der Krise (Foto: Dorothea Tuch)

Ein weiteres Ergebnis dieser Prozesses ist die Uraufführung „Loderndes Leuchten in der Wäldern der Nacht“ des argentinischen Regisseurs Mariano Pensotti, der Puppenspiel, Theater und eine sehr aufwändige Kinoproduktion mischt, um als Spiel im Spiel eine Meditationen mit drei Protagonistinnen über weibliche Aneignung des feministischen Erbes zu erzählen. Das ist ein mal lautes, mal poetisches Ideen- und Geschichtengewitter, das in einem Bild gipfelt, das wie ein Meteor in die Reflexion über Feminismus heute hereinbricht: Vier kleine Mädchen ziehen tanzend und in Zeitlupe eine Wägelchen durch den Urwald. Darauf eine Alexandra Kollontai Puppe – eine rätselhafte Parade.
Vom Rausch der Kunst zum harten Brot der Parteiprogramme entführte die fünfteilige Veranstaltungsreihe „New Unions“ von Jonas Staal, die Europa und die EU weder den rechten Populisten und Separatisten, noch den neoliberalen Globalisten überlassen will.

 „Wir laden trans-demokratische Parteien, Plattformen und Bewegungen aus ganz Europa ein, nach alternativen Modellen zu suchen, nach neuen Formen trans-demokratischer Unionen.“

Das Festival „Utopische Realitäten“ trägt seinen Grundwiderspruch schon im Titel, denn eine Realität ist nie utopisch, und eine Utopie hört auf, eine zu sein, wenn sie sich in Realität verwandeln sollte. Aber immerhin: Wo die Träume politischer Bewegungen, 100 Jahre nach 1917, im historischen Vergleich mager und mutlos auftreten, verraten die künstlerischen Positionen immerhin die ungebrochene Kraft der Imagination.