Stéphane Braunschweig – Soudain l’été dernier

Stéphan Braunschweig inszeniert Tennessee Williams in Paris
Von Kannibalen, Lobotomien und eifersüchtigen Müttern
von Eberhard Spreng

Stéphane Braunschweig ist Vertreter eines psychologischen Schauspielertheaters. Nach Intendanzen am Straßburger Nationaltheater und am Théâtre National de la Colline ist er jetzt zum Direktor des Odéon-Théâtre de l’Europe berufen worden. Seine erste Inszenierung dort entführt mit „Soudain l’été dernier“ in Tennessee Williams Urwald der Triebe.

Deutschlandfunk, 14.03.2017

Jean-Baptiste Anoumon, Virginie Colemyn und Marie Rémond im Dickicht der Erinnerung. (Foto: Thierry Depagne)

Mrs. Venable hält Hof in einem bizarren Garten: Gewaltige Urwaldpflanzen türmen sich weit in die Höhe; Lianen hängen von oben herab, große rote Blüten appellieren an den gefährlichen Eros Natur. Der vor einem Jahr verstorbene Sohn der alternden Milliardärin hatte diesen Garten nach einem Aufenthalt auf den Galapagos-Inseln angelegt. Dort hatte er seine exaltierte Form von Religiosität entdeckt: beim Anblick frisch geschlüpfter und sofort von Vögeln gefressener Seeschildkröten  – ein Schlüsselerlebnis bei der ganz eigenen Gottsuche. Er selbst war unter mysteriösen Umständen bei einem Sommeraufenthalt zu Tode gekommen, in Begleitung seiner Cousine Catherine, die Mrs. Venable zutiefst verabscheut. Die herrschsüchtige Dame hatte eine symbiotische Mutter-Sohn Beziehung aufgebaut, mit ihm war sie als Paar in mondänen Kreisen aufgetreten, ihn hielt sie für einen begnadeten Poeten, dem es gelungen sei, das eigene Leben zu einem Kunstwerk zu machen. All das erklärt sie einem jungen Neurologen, dessen Klinik auf ihre finanzielle Hilfe angewiesen ist.

Il faut juste se rappeler deux choses: C’est une destructrice, mon fils était un créateur.

Der Doktor soll mit einer Lobotomie der verhassten Catherine, die seit dem tödlichen Zwischenfall in psychiatrischer Behandlung ist, die Wahrheit über den Tod ihres Sohnes aus dem Gehirn entfernen. Denn Catherine macht Andeutungen über den Tod Sebastians die, u.a. auf dessen Homosexualität hindeuten. All das würde den Mythos zerstören, den Mrs. Venable um ihn herum etabliert hat. Der schwarze Jean-Baptiste Anoumon spielt den umsichtigen, klug die aufschäumenden Leidenschaften dämpfenden Arzt, Luce Mouchel die kapriziöse, nervlich zerrüttete Dame, die immer wieder auf ihren Rollstuhl zurücksinkt. Marie Rémond   gibt die von einer autoritären Ordensschwester herrisch bewachte Nichte. Die entwickelt, unter dem Einfluss eines Psychopharmakums, befragt vom Arzt und gequält von den aufkommenden Erinnerungsbildern,  in einem langen Monolog die Geschichte vom Tod Sebastians.

Kannibalismus als Vollendung der verqueren Dichterkarriere

In eindringlichem Spiel erzählt Marie Rémond von einer gruseligen, kannibalischen Szene: Straßenkinder hatten Sebastian überfallen. Es ist der jämmerliche, dekadente Abklatsch eines dionysischen Mythos. In Tennessee Williams tiefenanalytisch aufgeladener Symbolik findet eine Verschiebung tabuisierter Triebenergien statt. Wo die Exposition die inzestuöse Domination der Mutter offen legt, die keine andere Frau in der Nähe des vergötterten und unterdrückten Sohnes duldet, erzählt Catherine davon, wie der schüchterne Sebastian sie als Lockvogel benutzt habe, um die Jugendlichen anzulocken.

Stéphane Braunschweig wünscht sich ein vielschichtiges Theater (Foto: Carole Bellaiche)

Mit präzis gelenktem Spiel und hoher psychologischer Genauigkeit hat der neue Intendant des Théâtre de l’Odéon, Stéphane Braunschweig, als erste eigene Arbeit hier Tennessee Williams eher kleines Stück inszeniert. Psychologie, der soziale Bruch zwischen dem Milliardärssöhnchen und den verhungerten Straßenkindern, und die mythologische Allegorie mischen sich in einem Schauspielertheater, das den klassischen Tugenden dramaturgischer Genauigkeit verpflichtet ist. Stéphane Braunschweig begründet so auch seine Vision von einem Theater in Zeiten medialer Mainstreams.

Ein Theater der Komplexität

Entscheidend ist, dass das Theater nicht auf Komplexität verzichtet. Wenn man Nachrichten hört und Reden der Politiker, dann erkennt man, dass alles vereinfacht wird. Von der Vielschichtigkeit der Welt ist da nie die Rede. Von Philosophen oder auch guten Journalisten erwarten wir, dass sie die politische, ökonomische, soziale Komplexität unserer Welt wiedergeben. Und um die menschliche Vielschichtigkeit muss es im Theater gehen.

Stéphane Braunschweig hat sich mit vier jüngeren Regisseuren und Regisseurinnen umgeben, die als Artistes Associés seine fünfjährige Intendanz am wichtigen Odéon – Théâtre de l’Europe begleiten. Zu ihnen gehört auch der genialisch fabulierende Theaterexperimentator Silvain Creuzevault, den Braunschweig vom Théâtre de la Colline mitgebracht hat. Vom früher einmal eher kleinbürgerlichen und proletarischen Osten der Stadt ist der Theatermann jetzt an das bürgerliche Odéon gezogen, was für ihn die Chance bietet, sich neben Autoren wie dem Norweger Arne Lygre auch wieder mehr dem klassischen Repertoire zu widmen.

Durch den Programmauftrag des Théâtre de la Colline war ich ein wenig gezwungen, zeitgenössische oder moderne Autoren zu inszenieren, Autoren des 20ten Jahrhunderts. Jetzt kann ich zu meinen alten Favoriten zurückkommen, zu Shakespeare und Molière, und ihren vielschichtigen Stücken.